Alltagsarchitektur als Gegenstand künstlerischer Produktion bei Hein Spellmann
Häuser, Gebäude, Bauwerke, Architektur, Baukunst, gebaute Umwelt. Alle diese Ausdrücke beschreiben etwas, das ganz grundlegend und elementar damit verbunden ist, wie Menschen leben. Die gebaute Umwelt ist fundamentaler Bestandteil der menschlichen Existenz. Gebaute Umwelt nehmen wir manchmal gar nicht als solche wahr, gerade weil sie so selbstverständlich und universell ist. Was würde ein Fisch antworten, wenn man ihn danach fragt, was Wasser ist? Angesichts der tragenden Rolle, die die gebaute Umwelt im Leben eines Menschen spielt, ist die Menge der Kunstproduktion, die sich mit diesem Thema auseinandersetzt, eigentlich erstaunlich gering. Wenn wir über unsere gebaute Umwelt reden, dann rutschen Konversationen sehr schnell dahingehend ab, dass Gebäude bewertet oder beurteilt werden. Dieses gefällt mir gut, anderes nicht. Jenes ist ganz entsetzlich, anderes ist ganz wunderbar. Sowohl Experten als auch Laien machen das so. Vielleicht liegt der Hang zur Bewertung darin begründet, dass uns oftmals die Worte und Informationen fehlen, uns überhaupt über unsere gebaute Umwelt auszutauschen. Da fällt es oft leichter, ein Urteil zu fällen, anstatt unwissend mit den Achseln zu zucken. Tatsächlich aber bietet unsere gebaute Umwelt eine Hülle und Fülle an Material zu Kommunikation und künstlerischer Produktion. Mit einem Architekturführer in der Hand wird ein Stadtspaziergang zur Lektüre in einem Geschichtsbuch. Noch viel basaler als das Lesen im Architekturführer ist es jedoch, Gebäude überhaupt erst einmal als ästhetische Objekte sehen zu können. Und mit „ästhetisch“ ist nicht gemeint, dass jedes Gebäude schön aussehe. Viel wichtiger ist die Erkenntnis, dass ein Gebäude überhaupt irgendwie aussieht und eine ästhetische Wirkung hat, ganz gleich, ob sie einem gefällt oder nicht.
Die Wandobjekte von Hein Spellmann sind in gewisser Weise Sehhilfen, die uns diesen unvoreingenommenen Blick auf gebaute Umwelt beibringen. Hein Spellmann zeigt Ausschnitte von Gebäuden, die einerseits stark verfremdet, andererseits exakt und wirklichkeitsnah sind. Alle Gebäude, die Hein Spellmann fotografiert, werden durch einen künstlerischen Prozess zu äußerst sympathischen Wandobjekten verarbeitet. Seine Objekte sind wunderschön, ganz gleich ob die darauf gezeigten Gebäude nun als hübsch oder hässlich gelten. Dennoch zeigen die Wandobjekte alle unansehnlichen Details der fotografierten Gebäude – alle Geschmacksverirrungen, Abnutzungen, Bauschäden und Verwitterungen. Wer die Arbeiten von Hein Spellmann betrachtet, ist dazu gezwungen, nicht nur die Wandobjekte selbst, sondern auch die dafür fotografierten Gebäude als ästhetische Objekte wahrzunehmen. Hier geht es nicht um die Schönheit oder Hässlichkeit der fotografierten Gebäude. Hier geht es darum, die – wie auch immer gearteten – Eigenschaften der gebauten Umwelt wahrzunehmen und als solche anzuerkennen.
Um die architektonischen Wandobjekte herzustellen, fotografiert Hein Spellmann Gebäude einerseits mit ausreichend Abstand. Der Bildausschnitt ist so gewählt, dass mehrere Fassadenachsen und Geschosse sichtbar sind. Es handelt sich nicht um Detailaufnahmen. Der Bildausschnitt ist immer so groß, dass die Haushaftigkeit der fotografierten Gebäude erkennbar ist. Andererseits sind die Bildausschnitte so eng gewählt, dass die fotografierten Häuser nur schwer zu identifizieren und eindeutig zuzuordnen sind. Die Frage, ob es sich bei dem abgebildeten Gebäude um Meisterwerk oder Massenware handelt, ist schwer zu beantworten. Denn selbst wenn man die Gebäude eindeutig zuordnen kann, so muss man – sogar als Experte – zugeben, dass die Unterschiede zwischen Klotz und Kulturdenkmal oft geringer sind, als man sich eingestehen möchte.
Ganz abgesehen davon hat die Architektur der Nachkriegsmoderne in den vergangenen sieben Jahrzehnten mehrere Bedeutungswechsel durchlaufen, die sich auch in der Kunstproduktion der jeweiligen Zeit bemerkbar gemacht haben. In den 1950er und 1960er Jahren dominierten affirmative und zukunftsoptimistische Darstellungen. In den 1970er und 1980er waren künstlerische Positionen zu diesem Thema überwiegend kritisch und skandalisierend. Doch wenn eine Sache erst einmal als hässlich und wertlos etabliert ist, dann dauert es erfahrungsgemäß nicht lange, bis das Pendel zur Gegenseite schwingt. Spätestens seit Anfang des 21. Jahrhunderts gilt ein anderes Paradigma in der künstlerischen Auseinandersetzung mit gebauter Umwelt: Es gilt, die Schönheit im Hässlichen zu finden. Auf Instagram läuft quasi ein Wettrennen darum, wer es schafft, die schönsten Baudetails und Lichtspiele aus vermeintlich hässlicher Alltagsarchitektur herauszupräparieren. Diese Trüffelschweine der Architekturfotografie machen sich verdient, indem sie ein radikal anderes Bild der modernen Architektur erfinden – les Fleurs du Mal! Doch auch dieses ehrenwerte Unterfangen nimmt die Antworten vorweg, bevor es die Fragen stellt. Ganz im Gegensatz dazu verhalten sich die Wandobjekte von Hein Spellmann. Wie alle guten Kunstwerke werfen die Objekte Fragen auf, anstatt sie zu beantworten. Ob nun die Meisterwerke der Baugeschichte überbewertet sind, oder ob die Alltagsarchitektur sträflich unterbewertet ist, das soll gar nicht beantwortet werden.
Der Titel der Ausstellung „Mustersiedlung“ spielt auf das Berliner Hansaviertel an. Das Hansaviertel war Teil der Internationalen Bauaustellung „Interbau“ von 1957. Dazu waren international renommierte Planer und Architekten eingeladen worden, unter anderem Oscar Niemeyer, Alvar Aalto, Arne Jacobsens und der emigrierte Walter Gropius. Unter den Architekten aus Deutschland befanden sich Paul Baumgarten, Werner Düttmann, Egon Eiermann, Wassili Luckhardt, Paul Schneider-Esleben, Sep Ruf, Max Taut sowie das Büro Fehling-Gogel-Pfankuch.
Das Hansaviertel sollte tatsächlich eine Mustersiedlung sein – eine mustergültige Lösung für den Siedlungsbau der Nachkriegszeit. Und tatsächlich finden sich auf den neuen Wandobjekten von Hein Spellmann zahlreiche Wohnhäuser aus dem Berliner Hansaviertel. Allerdings sind es nicht ausschließlich Gebäude aus jener Siedlung, denn unter die Meisterwerke der „Interbau“ hat Hein Spellmann auch Alltagsarchitektur der Nachkriegsmoderne gemischt – sowie postmoderne Fassaden aus dem späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts.
Dass hier also ein diverses Quellenmaterial verwendet wurde, spricht dafür, dass der Titel „Mustersiedlung“ nicht ausschließlich als Anspielung ans Hansaviertel gemeint ist. Vielmehr besitzt jedes Wandobjekt durch seine Fassadenstruktur ein eigenes Muster. Die Objekte selbst sind also gemustert – so zum Beispiel im Falle des sogenannten Schwedenhauses, dessen quer verlaufende, rote Balkonbrüstungen zusammen mit den senkrechten, weißen Stahlstangen der Fassade ein Webmuster ergeben, welches sich um die gerundeten Kanten des Wandobjekts legt. Eine andere Arbeit zeigt einen Ausschnitt des Punkthochhauses von Johannes Hendrik van den Broek und Jacob Bakema, ebenfalls aus dem Hansaviertel. Hier wiederholen sich die architektonischen Elemente nicht. Stattdessen hat Hein Spellmann die farbigen Flächen in Gelb, Blau und Rot durch eigene Retuschen vergrößert und somit selbst ein Farbmuster entworfen – basierend auf der Geometrie des abgebildeten Hauses.
Die Wände des Galerieraums werden von diesen verschiedenen Mustern besiedelt. Es handelt sich nicht nur um eine mustergültige Siedlung, sondern auch um eine Ansiedlung verschiedener Muster. Die Galerie wird zum städtischen Block, die einzelnen Objekte der Ausstellung werden zu Häusern in der Siedlung.
Gunnar Klack